Filmtagebuch einer 13-Jährigen #9
Von Silvia Szymanski // 20. August 2013 // Tagged: Deutsches Kino, Ehedrama, Eherettung, Ehestiftung, featured, Italien, Lateinamerika, Seltsame Frauen, Sexploitation, Skandalfilm, Skandinavien, Vergewaltigung, Voodoo // 3 Kommentare
Der Hofbauerkongress ist ein inoffizielles Treffen von Freunden älterer, seltener, aparter, poröser, „schmieriger“ Filme, rund um den Nürnberger Filmblog „Eskalierende Träume“. Vier Nächte lang sieht man dort ein Filmprogramm, das – die Formulierung fand ich immer prickelnd in den „Bastei“-Heftchen – „die geheimsten und verborgensten Stellen“ des kollektiven Filmkörpers kennt und zu berühren weiß.
Diesmal, vom 12. bis 16. Juli 2013 waren besonders viele Leute eingeladen. Ich freue mich sehr, dass das Leben diese sehr interessanten Zusammenkünfte erlaubt. Manchmal hab ich aber auch an was zu knabbern – vielleicht bin ich ja auch „übersensibel“: Dagmar Lassander sagte das auf dem Kongress in SONNE, SAND UND HEISSE SCHENKEL über sich; mit ihrem überlebensgroßen, rot geschminkten Mund sprach es die Leinwand aus.
EIN KÖRPER VOLLER LUST / BABY VICKIE (John Hayes, USA 1969)
Spelunkig und verloren ist dieser rare Film, erregend trist wie HONEYMOON KILLERS, aber unbewusster, ungepflegter. Vickie ist ein Mädchen, das – wie Robert (12.-15.7.2013) treffend schreibt – durch ihre Sexualität immer wieder in unbehagliche, unklare Situationen gerät. Der Katholische Filmdienst sieht sie als „ein von seiner Mutter vernachlässigtes, unaufgeklärtes Mädchen“. Das lässt bedenklich in die konservative Dienstseele blicken, denn immerhin hat Vickie auch einen Vater. „Unaufgeklärt“ fiel mir auch gar nicht auf, aber mir entgeht so manches; ich fühle mich im Kino manchmal wie ein dummer Hund, der auf unwichtige Dinge achtet und dafür Zusammenhänge manchmal nicht begreift. Selbst Vickies Vergewaltigung, an die sich die Freunde erinnern, hab ich nur dunkel im Kopf, als eins von vielen unklaren Dingen, die ihr geschehen; Vickies Leben ist ein permanentes Hafenviertel.
Vickies Eltern sind bizarre, nervös-neurotisch mit sich selbst beschäftigte Leute, mal nachlässig, dann wieder streng und emotional verbaut. Sie haben eine Schneiderei/Chemische Reinigung, aus der sich Vickie für ihre eigene, verschrobene Art von Sex eine männliche Schaufensterpuppe mit aufs Zimmer nimmt – was ich vor kurzem in Jess Francos MISS MUERTE als Bühnennummer sah, das ist für Vickie etwas ganz Privates und Verzweifeltes.
Später nimmt ihr Freund sie mit ins Autokino. Auf dem Vordersitz knutscht ein Junge mit einem Mädchen, dessen Brüste obszön sexy, fast phallisch vorstehen. Vickie ist stumm erregt, aber wohl auch überfordert/abgestoßen, und der Erwartung ihres Freundes, es den beiden gleichzutun, mag sie nicht nachkommen. Diese Eigenart, sich unberechenbar zu verschließen, behält sie den ganzen Film lang bei. Ihr Freund ist ihr deshalb böse, sie läuft weg, und ich glaube, dann passiert die Vergewaltigung. Ihr Freund wagt sich danach sexuell nicht mehr an sie heran, aber ein Jahr später heiraten sie. Sie sind glücklich, aber dann sieht man ihn nackt auf ihr liegen und darum betteln, dass sie ihn begehrt, ihn anfasst, sich bewegt, doch sie bleibt puppenstarr. In jener Nacht läuft sie ihm weg.
Da ist ein Haus, innen ganz kahl, und seine Treppe rauf schleppen sich, betrunken lachend und einander befummelnd, eine grell betrunkene Stripperin und ihr proletisch-animalischer Lover. Vickie schaut heimlich zu, der Mann bemerkt das, zwischen ihnen beginnt ein wortlos spannungsreiches, sexuelles Werben (die Leute in dem Film reden wenig). Er kommt rüber und knutscht sie gezielt und mit Bedacht, doch knapp, wie man Kondome oder Zigaretten zieht (irgendwie ist dieser Film auch bukowskiesk.) Als er mit seiner Lady auf sein Zimmer geht, wendet er sich noch mal um zu Vickie, mit einer Geste, dass sie mitkommen kann. Und sie folgt – der Film ist voller Überraschungen. Die Leute verhalten sich anders als gewohnt, das macht immer neue Räume auf, das mag ich sehr.
Fünf Tage lang sind sie ein Paar. Wenn Vickie nach dem Sex innig ihre Hand auf sein Bein legt, sehen sie aus wie in BROWNIAN MOVEMENT, denn dieser Mann ist so flaumig und unregelmäßig behaart wie der Dschungelgeist Pombero, den ich mal in einem Film gesehen habe. Einmal kauft sie, um ihn zu freuen, ein Baby Doll Nachthemd, in dem sie wie ein Kind aussieht (man denkt an den schönen, schwülen Schmutz von Kazans BABY DOLL).
Eines Nachts ist die Verzauberung plötzlich vorbei. Vickie liegt unter ihm so teilnahmslos wie unter ihrem Ehemann und will am liebsten weglaufen. Sie streiten, er schlägt sie, schmeißt sie raus. Eine lesbische Prostituierte nimmt sie auf, erregend und verwirrend. Ich weiß nicht mehr warum, aber auch ihr läuft sie weg, dann schließt sich schon der Kreis. Sie kehrt zu dem behaarten Mann zurück, doch er ist immer noch verletzt und macht sich lustig über sie. Ihr Ehemann findet sie wieder. Verurteilt sie nicht, will sie verstehen, aber beide sind hilflos, der Film gefriert zum Schlussbild, als Vickie etwas schreit.
Eine Geschichte wie manchmal in der Neuen Revue, Praline oder Wochenend, die ich in den Siebziger Jahren gelesen habe – trivial und ernst, ranzig und tief, Ingmar Bergmann im Bahnhofskino. Heute würde man, wenn überhaupt, dann eher einen schwulen, drogensüchtigen Jungen dafür nehmen, obwohl Vickie sicher nicht ausgestorben ist. Mir scheint, man sieht solche Mädchen heute vor allem als Opfer und stellt sich nicht mehr den Anteil eigenen sexuellen Getriebenseins in ihnen vor. Ich weiß nicht, ob ich Recht habe. Ich denke das nur im Moment. 9,5/10
Schauen Sie die Live-Ausschnitte von BABY VICKIE, hier, hier und hier! Lesen Sie mehr über BABY VICKIE hier, im Temple of Schlock!
Vorfilm zu VICKIE war ein Kulturfilm über ein Modelcasting im Polen der 60er Jahre: MANNEQUIN, EIN TRAUMBERUF? Eine pelzige Masse von Frauen wälzt sich zum Casting durch die Tür eines amtsähnlichen Gebäudes, zig Pelzjäckchen und Chiffonkopftücher schieben sich auf Stöckelschuhen in den Saal mit seinem dichten, alten, klebrigen Plüschteppich. Ernst und streng werden die Körper vermessen, die Mädchen müssen schaulaufen. Meinem Sitznachbarn taten sie innig leid, das fand ich nett von ihm.
DIE KLEINE STADT WILL SCHLAFEN GEHEN (Hans H. König, BRD 1954)
Die biedermeierlich miefige, deutsche Kleinstadt, in der das spielte, war so interessant schlimm, dass ich mich nicht entschließen konnte, den Film beleidigt zu verschlafen. In ihrem Zentrum prangt der in sich selbst verliebte Bildhauer Peter Bruck, ein rektoral in sich ruhender, allein erziehender Vater zweier Kleinkinder. Er ist ein permanent vergnügter Bildhauer und Pfeifenraucher, der dem pappigen Fachwerk-Kulissenstädtchen und seinen Spitzweghonorationen schelmisch den satirischen Spiegel vorhält, ohne sich aber wesentlich von ihnen zu unterscheiden. Den ganzen Film lang behält er diese grundlos überlegene, süffisant-humorige Pose. Mein Nachbar sah mein Leid und flüsterte mir zu, wie gern er dem eins geben würde in sein selbstzufriedenes Gesicht.
Ich war empört über Peter Bruck, dann aber… kamen diese Dingchen aus dem Film. Die winzigen Erscheinungen, für die die Sprache keine Namen und die Wissenschaft keine Erklärung hat. Wie im Mittagsschlaf im Sommer – leuchtende, ultraflüchtige Gedanken, Erinnerungsfetzchen, fragile Assoziationen… und mittendrin auf einmal: Helen Vita! Frech und appetitlich, biegsam und gewieft, mit ihrem hübsch geschwollenen Bullterriergesicht und ihrer runden, festen Marzipanfigur, saß sie wie ein Kobold in Brocks Wohnzimmer und riskiert eine freche Lippe. Plötzlich kam Leben auf. Selbst wenn sie „nur“ eine Banane aß. – Von Verwechslungen und Missverständnissen verzögert, stand am Ende der Gewinn eines blitzsauberen, jungen Frauchens als Stiefmutter für die kreuzbraven, altklugen Kinder. Da hatte es mich aber schon erwischt, ich konnte nicht mehr richtig meckern. 8/10 (Von Hans H. König ist auch ROSEN BLÜHEN AUF DEM HEIDEGRAB. Den habe ich hier besprochen. Und seine heiße HEISSE ERNTE hier.)
SONNE, SAND UND HEISSE SCHENKEL / PECCATI DI GIOVENTÙ (Silvio Amadio, Italien 1975)
Eine edelschöne Frau (Dagmar Lassander) hatte als Mädchen eine Liebesaffäre mit ihrer Lehrerin. Es kam heraus, und die Lehrerin schämte sich so sehr, dass sie sich umbrachte. Seither trägt ihre Schülerin die Erinnerung und das Schuldgefühl wie eine Brosche in ihrem Herzen, die sie langsam tot sticht. Ein sommerwindleichter, immer trauriger werdender Ferienfilm im prätentiösen Ambiente – edle Ästhetisierung schwächt manchmal meine Anteilnahme, aber das ist nicht gerecht von mir. 6,5/10 (Ein gerechterer Text steht hier.)
ICH SPÜRE DEINE HAUT (BRD 1969, Günter Schlesinger)
Dieser Film hat mich ein bisschen auf dem falschen (eingeschlafenen, denn ich war schrecklich müde) Fuß erwischt, so dass ich gar nichts Formulierbares mehr weiß. Zum Glück hat Ciprian David auf NEGATIV etwas dazu geschrieben, das ich hier dankbar und erfreut zitieren darf:
“Da drin läuft gerade ein lesbischer Film, und mir weht hier der Nachtwind durch die Kimme“, sagt ein Mann, fast nackt, wie Gott ihn schuf und mit verdächtig entwickelten Muskeln am rechten Arm, um sich später im Verlauf des Films an die zwei Lesben als Obermacho ran zu machen. Der Film weist als Ganzes auf eine Gesellschaft hin, in welcher diese Mädchen (die sich teilweise in diversen Formen in die Illegalität begeben müssen, um sich einen Ausbruch zu ermöglichen) nur versagen können, während der besagte Mann als einziger Gewinner breitbeinig im Bild steht, denn Lust ist das einzige, was ICH SPÜRE DEINE HAUT affirmieren möchte. Phänomenologisch ist diese Affirmation der Lust, und in dieser Schizophrenie keimt auch der Genuss dieser Filme, mit dieser über das Ziel hinaus schießenden Sprache verbunden…“. Ciprians vollständiger Text über einen der Kongresstage findet sich hier.
WALLSTREET WOMAN – FÜR IHRE KARRIERE TUT SIE ALLES / HIGH FINANCE WOMAN (Joe D´Amato, Italien 1990)
“Ja, ich weiß. Ich bin dumm!”, sagt der naive junge Mann zu Wallstreet Woman, die er liebt, und ein bisschen sagt der Film das auch über sich. Aber es ist eine entwaffnende, lebenskluge Dummheit, die, um sich selber wissend, alles aussiebt, was zu kompliziert ist. Übrig bleibt ein blendend einfacher Weg, das Leben anzugehen und einen Film zu machen. Es war mein erster Film von D’Amato, und ich fand ihn noch wirkungsvoller als Pilcher & Co., mit denen ich es mir vorm Fernseher abends öfter gut gehen lasse. So angenehm und schamlos schlicht.
Der durchtrainierte, hübsche, treuherzige Protagonist wird uns als Journalist vorgestellt. Es gibt in seinem Büro aber keine unangenehmen Anzeichen von Arbeit außer einem Billigcafeteriatisch, den man als Schreibtisch verstehen muss, und, wie in Redaktionen von großen Wirtschaftsmagazinen bekanntlich üblich, zahlreiche an die Wand geklebten Zeitungsseiten. Er hätte diesen Job hier gar nicht nötig, sein Daddy ist schwer reich, aber der Junge ist zu stolz. In seiner Freizeit geht er brav, wie animiert, im Fitnessstudio trainieren. Wenn er dort mit seinem Kollegen am anderen Gerät Worte wechselt, läuft ihr Gespräch so faszinierend leer, dass man sie in einer Übersprunghandlung küssen möchte. Sie haben die gleiche Intelligenz wie ihre Geräte; sie sind eins mit allem, auf einer flachen Ebene, die ihr Fetisch ist. Auch Wallstreet Woman ist ein Fetisch, ihre Karriere nur ein Accessoire. „Deine Unabhängigkeit und deinen Job aufzugeben, um meine Frau zu werden, ist das denn zuviel verlangt?“, fragt unser Junge sie leidenschaftlich, als er ihr einen Heiratsantrag macht, und seine blauen Augen blinkern heilig einfältig.
Wallstreet Woman sieht man oft mit Autos und vor neu gebauten, von Architekten in ein Ödland gesetzten Häusern. Wo sie sich aufhält und mit wem sie umgeht, ist postmodern und deprimierend, aber verhohlen aufregend. Sie telefoniert und spricht mit Kollegen in einem kaum eingerichteten Büro, dessen Fenster auf ein tristes Vorstadtautobahnkreuz im frühen Sonntagmorgendunst blickt. Diese Briefkastenfirma-Atmosphäre müssen wir uns als authentisches Wallstreetmilieu denken. Woman ist eine im Sinne der 80er Jahre überaus gepflegte und gestylte, spitzfingrige, kühl blickende Erscheinung. Unter dem Lack: ein Herz, das sie verbergen muss. Und amouröse Geheimnisse, die ich nicht spoilern will, weil sonst am Ende von diesem mageren Formfleischfilm nicht genug zum Gucken übrig bleibt. Denn es ist alles hier so dürftig und reizvoll künstlich wie das, was man im Flugzeug zu essen und erleben kriegt. Die Stewardessen folgen ihren Ritualen, Klimaanlage volle Pulle, die Wolken strahlen, und man hat plötzlich Spaß an Dingen, die einem außerhalb dieser kleinen, isolierten Welt über der Erde nichts bedeuten, wie Gratis-Bordzeitschriften, Tomatensaft oder der Geschäftsmann neben uns. 9/10
Auf italienisch kann man sich den Film hier anschauen. Man wird schön frei von Gedanken, Problemen und Leidenschaft.
OSCENITÀ/ QUANDO L´AMORE È OSCENITÀ (Renato Polselli, Italien 1980)
Frei von Leidenschaft macht das hier nicht. Auf einer eigentümlich satirischen, verschwafelten Ebene ist hier alles Sex, Sex, Sex. Es ist eine Justine-Geschichte: Eine Frau flieht vor einer Vergewaltigung unweigerlich zu immer neuen Vergewaltigern. Ihre Verzweiflung darüber ist dramatisch, wird aber konterkariert durch die fickrige, billige und irgendwie bedröhnende Atmosphäre dieses öligen Films – die Dinge sausen und trudeln wie im Schaumweinrausch durch die sommerheiße Luft, alles ist abgehoben, bodenlos, faulig, überweich, schmierig… sie wird zu einem Eselchen gebeten (meine mitguckenden Freunde waren sich allerdings sicher, dass sie gezwungen wurde). Eselchen wird gestreichelt und geliebt, Männer von Frauen anal verführt (wahrscheinlich ist aber auch das eine Vergewaltigung – ich muss da aufpassen, denn ich scheine so was wirklich manchmal auszublenden). Zwischen den fast expliziten Pornothemen gibt es aber auch viel Softsex. Das Sahnehäubchen auf diesem farbigen, obszön opulenten, hochprozentigen, tropfend schmelzenden, die Waffel aufweichenden Süßspeisenbecher ist sein amüsant bescheuerter, pseudopoetisch-philosophischer Überbau: Der Film ist überzeugt, wir müssen durch die ganze schlimme, harte Schule, die gesamte Geschichte und Evolution der Sexualität, mit Schlamm, Schleim, Ekel, Gewalt, Perversion, Furcht und Scham, um am Ende zur Erkenntnis zu gelangen, dass all das, alles nichts als Liebe ist.
Manche der Kollegen sagten nach dem Film, die Menschen seien so hässlich gewesen, sie wollten jetzt mal schöne sehen. Ich sagte, da sollten wir uns mal an die eigene Nase fassen; wenn man mit uns einen Porno drehen würde, sähe der auch nicht besser aus. Von da an hatte ich diese Vorstellung im Kopf. 9/10
Die schummrigen Screenshots verdanke ich dem Blog von Robydick! Hier und hier finden sich Ausschnitte.
HEISSE BERÜHRUNGEN / MIDNIGHT PARTY (Jesús Franco, 1976)
Parodistischer Sex geht oft nicht gut, kann aber manchmal auch toll sein. Bei der dafür zu unglückseligen Ingrid Steeger eher nicht, aber die Pornomädchen Patricia Rhomberg und Desiree Cousteau waren schon sehr zauberhafte und verwegene Sexclowns. Und auch Linda Romay albert in diesem Film süß mit einem Pärchen herum, weich und warm, auf zwinkernder Augenhöhe mit ihrem Mann, dem Regisseur, mit dem sie so ist wie eins. Freunde, die mehr Filme von Jess Franco gesehen haben, sagten, er habe sie oft unerotisch und hässlich gefilmt. Das ist hier aber nicht so. Die Ausstattung ist ärmlich, die Handlung spärlich, die Atmosphäre aber einzigartig – allein getragen von diesem eierschaumhaften, luftigen Charme, ein Baiser in einem billigen Karton. 6,5/10
VORSTADTFRAUEN – LUSTGEFÜHLE AM VORMITTAG (Derek Ford, GB 1972)
Die aus der Verbindung mit eklatant unsexuellen Londoner Männern resultierende Unausgefülltheit führt zu bezahlten und unbezahlten Formen des Ehebruchs und zu heimeligen Pferdewetten mittels Telefon und Fernseher. Ein netter Film mit toller Beatmusik, der einen in die Häuser anderer bringt. Und wenn man nicht verdammtnochmal zu müde ist, um dort etwas detailliert wahrzunehmen, kann man später viel davon erzählen. 7/10
DIE JUNGEN TIGER VON HONGKONG (Ernst Hofbauer, BRD 1969)
Verwöhnte junge Leute werden kriminell aus Langeweile. Vernünftige ältere Leute machen sich daran, sie einzufangen, um sie zu verändern. Auch dieses in sich spannungsreiche Tun sah ich durch ein Gitterwerk von Schlaf, das sich vor die Leinwand schob. Aber ich mag Hofbauers old school männliches, väterlich nikotingeschwängertes Menschenbild gern, aus der Distanz. 6/10
DAS TEUFELSWEIB VON SANTA MARGARITA / LA BALANDRA ISABEL LLEGÓ ESTA TARDE (Carlos Hugo Christensen, VEN/ARG 1950)
Ein Seemann muss hinaus aufs Meer. Seine Frau weiß, was das beinhaltet und lässt ihm die Freiheit, so lang er für sie und seinen braven, kleinen Jungen sorgt. Seit ich, wie die Freunde, auf triste Kinder in Filmen achte, sehe ich sie überall. Sie trüben im Schatten der Erwachsenendramen, als stumme Mahnung, das Zarte und Kleine nicht so egoistisch zu überrollen. Ihren Vätern verleihen sie den Nimbus von Verantwortlichkeit und sexloser Liebe.
Traurig und treuherzig blickt der Junge auf zu seinem Vater. Er klebt an ihm und Sachen sagt wie: „Du bist immer lieb und gut, Vater. Auch wenn du mich schlägst, bist du gut.“ Papa verspricht, ihn einmal mitzunehmen, aber zuerst zieht er allein los mit den Männern übers Meer zu einem wimmelnden, karibischen Hafenstädtchen. Halbnackt und verschwitzt arbeiten die Muskelmatrosen vor einer tropisch bewachsenen Hügelkette. Die verschachtelten Gassen, Treppen, Durchgänge sind wie ein Körperinneres, in dem man sich verlieren kann.
Dieser labyrintische Körper ist bevölkert mit Gangstern und gescheiterten Frauen. Eine zerlumpte Prostituierte baggert die Männer an, im Wahn, noch schön und jung zu sein – so kann man enden, warnt der Film, auch wenn ihr Wahnsinn sie prophetisch macht. (Das gibt es öfter in den 50er Jahren. Bei Tennessee Williams, oder in „Rosen blühen auf dem Heidegrab“, wo ein Dorfirrer nachts bebend und entrückt „Das Moor ruft!“ flüstert.) In einer Ecke strickt eine zerbrochene Frau an etwas Endlosem. Alle Frauen tragen unglückliche Geschichten in sich. Aber es gibt hier eine glutvolle Nachtclubsängerin, Isabell (Virginia Luque), die mit verlockend dunklem Timbre singen kann. (Musik: Eduardo Serrano; im Link am Textende bei 23:30 min.) „Jetzt weiß ich erst, wie es ist, zu leben“, sagt der Kapitän, als sie mit einander schlafen. Doch als er heim will, schüttelt er sie ab wie etwas Lästiges. Schmerz! Empörung! Es gibt am Rande eine Bretterbude, wo ein ziemlich schöner, halbnackter Voodoopriester wohnt, der teuer oder auch für Sex zaubern kann. „Liebst du ihn?“, fragt er sie. – „Nein, ich empfinde nur noch Hass.“ – „Was soll ich also zaubern?“ – „Mach, dass er zu mir zurückkommt!“: So ist die Menschenseele. Es folgt ein dunkles Brimborium, wild, gefährlich, dumpfe Trommeln, man kann viel lernen, und es wirkt: Der Captain kehrt zu Isabell zurück. Lässt seinen Sohn auf dem Schiff und verschwindet in ihrem schattenreichen Blätterwerk. Am Ende wird die Ordnung aber durch und für den kleinen Jungen wieder hergestellt. 8,5/10
Hier ein Voodoo-Kurs in Santa Margarita: Die wirkungsvollste Art, zu rauchen. Der vollständige Film steht in spanischer Sprache hier im Netz.
DER PERSER UND DIE SCHWEDIN / JEUNESSE PERDUE (Akramzadeh, Schweden 1961)
„Für Mustafa sind der Tag und die Vorlesungen ein leider notwendiges Übel. Die Nacht und ihre Verlockungen dagegen, sind sein wirkliches Leben. Mädchen bedeuten für ihn alles! Sie sind für ihn die Erfüllungen seines verworrenen Lebensbildes. Wahllos und mit grenzenloser Unbekümmertheit jagt er ihnen nach und stürzt sich in zweifelhafte Abenteuer“: So kommentiert ein Off-Sprecher im sachlich-vorwurfsvollen Reporterton das bohemienhaft stylische und betrunken schöne Treiben der der Hauptfigur und der anderen jungen Männer und Mädchen in dem Film. Man weiß über Akramzadeh und seinen Film praktisch nichts, aber ich glaube, dass der Humor, der in dieser Kontrastierung steckt, nicht unfreiwillig ist. Ich stelle mir Akramzadeh als eine Art Marran Gosov oder Alexander Kluge vor, der selbstironisch wusste, was er tat… ich kann damit aber auch völlig falsch liegen!
Für mich könnte der Film zum Teil eine Parodie auf die ägyptischen Melodramen der 50er Jahre sein, mit der dramatischen Musik und dem Overacting, versetzt in ein existentialistisch und nouvelle-vagueig angehauchtes, schon mächtig swingendes London. Dort lebt der unverantwortliche Langzeitstudent Mustafa von dem Geld, das ihm seine Eltern aus dem Iran schicken, bis das Schicksal ihm den Geldhahn zudreht. Großes Pech für seine schwedische Freundin, die er in sein Lotterleben hinein gezogen hat…
Unter dem Vorwand, die Lasterhaftigkeit des eigenen, fragilen Lebensstils anzuprangern, ist der Film, so glaube ich, in Wirklichkeit eine Feier dessen leuchtender Schönheit und der unschuldigen Lässigkeit des Freundeskreises, aus dem anscheinend sämtliche Mittäter und Opfer besetzt wurden. Die Story und der spielerische, freudig überzeichnende Dilettantismus aller erinnern mich an eine Stummfilmbohème. Wenn sie so wild trinken, rauchen und die Verkommenheit des Nachtlebens darstellen, sind sie so unfassbar süß wie Kinder in Erwachsenenklamotten. In den Bildern und Ausschnitten unten sehen wir: ein Mädchen in einer Bar, im niedlich übergroßen Pelz, mit Fluppe – Kaiserin Soraya im Exil; die schlanke Schönheit trinkt sich Mut an für ihren ironisch sophisticated, grazil stilisierten Striptease. Wir sehen die jean-seberg-hübsche Hauptdarstellerin, die lieb und brav versucht, ihr Studium durchzuziehen, während ihre Freunde sie zum Nachtleben, Sex und dessen unglückseligen Folgen verleiten. Ihre Freundin, eine rockig-abgerissene, blonde Sirene. Die jazztrommelnde Band im Keller. Die Geburt des Babys im Hinterzimmer, durch einen sträflich nonchalanten, befreundeten Arzt, der, noch ganz bedöselt vom Suff und Sex mit seiner Freundin, aus dem Bett geklingelt werden musste. Es ist ein wundervoller Film – bestechend liebevoll, sehr lebhaft, schattig glitzernd und burlesk, und überall sind kleine Teufel drin versteckt und kichern. 9,5/10
Live-Mitschnitte des Films finden sich hier, hier und hier.
SCHREI NACH LUST – LIEBE ALS KÖDER (Günter Schlesinger, BRD 1968)
Und hier der andere Pol, der bleierne, magnetische, tote Punkt des 4-Nächte-Programmes. Vorgespannt war ein Kulturfilm anonymer Herkunft über den weiblichen Akt in der Kunst. Der Sprecher fand zu jedem der Modelle, die geduldig in gestelzten, abgedrehten Posen verharrten, ein Adjektiv. Nur bei einer wie im Opiumrausch lagernden Schönheit dachte er lang nach, bis er zögernd „mild“ versuchte.
Die Leute im SCHREI NACH LUST sind oft trocken, unfreundlich, teilnahmslos. Sie rauchen träge, fahren tranig Kahn. Unsympathische Langweiler telefonieren wichtigtuerisch mit großen Apparaten, an denen dicke Spiralkabel Strom tanken. Die Kamera starrt aus der Sicht eines Hundes auf Straßenmädchenbeine, die Köpfe hat sie abgeschnitten. In langsam leer laufenden Bildern und Sätzen stagniert die Spannung.
Es ist wie einer dieser Karamellpuddings der 60er Jahre, die immer stehen blieben, wenn es noch was anderes gab. Aber gerade dieses Vernachlässigte, lustlos sich selber Überlassene ist interessant. Die Räume miefig oder kärglich wie ein 60er Jahre Amt, so low budget, dass sie unglaubwürdig werden. Handelsübliche, großflächige Tapetenmuster mit poppigen Rundungen, Deko-Körbe an der Decke einer Wirtschaft, darunter eine sachlich-deutsche Form von Leonardo di Caprio, wie Christoph/Eskalierende Träume bemerkte…
Der unbeaufsichtigenden Regie verdanken wir aber auch unruhige, hautnahe Autoströme auf Hamburger (und Amsterdamer?) Straßen, ungebrochen aus ihrer Zeit gebeamte Schaufenster und auffallend echte, aus dem eigenen Leben bekannt wirkende Nebenfiguren. Man möchte rufen, hallo Onkel Alfred, hallo Herr Hübben! Doch die sind tot, und auch in diesem Film steckt nicht viel Leben. Im Gegenteil. Das ist das Fesselnde.
Aber ein Funke steckt in dem verstockten, groben Grabschen der Männer. Und besonders in der Hauptfigur, einem Politskandal-Partygirl (Karin Heske). Sie sieht staubig aus – jung, aber alt, wie alles in dem Film. Das kecke kleine Gesicht mit dem Sinjenschnütchen verkümmert wie eine trockene Blüte fast am Ende ihres langen Halses. Erschreckend originalgetreue Politikertypen umschwänzeln und umringen sie. Sie schäkert mit ihnen und gibt ihnen das Gefühl, zweifellos als Mann in Frage zu kommen, scheißegal wenn sie so aussehen wie Kiesinger oder Brüderle. Das ist erstaunlich, die Sexualität solcher Männer, die nicht zu ihrem Aussehen und Image passt, aber ihr Recht fordert.
Sie sind manchmal im Partykeller eines Siedlungshauses wie dem der Kohls in Ludwigshafen und wirken geil, verbraucht, betagt, gequält. Das Saxofon meckert. Halbfeucht-halbsteif, gehemmt und unentschlossen trüben Pärchen auf den Bodenkissen. Ich kenne das auch live, und es war nicht ungeil. Bei uns waren es allerdings keine Politiker. Na ja. Doch. „Falken“ manchmal. Aber nur einmal die „Junge Union“.
Wir haben aber nichts verpasst, indem uns unsere Onkel und Tanten nicht in diese Bars mitgenommen haben. Wo routinierte Tänzerinnen schematisch zu schmierigem Stöhnen und Murmeln von der Schallplatte strippen (einmal auch zu westafrikanischer Marimbamusik). Wenn sie ihre Strümpfe ausziehen, glaubt man, ihre Füße riechen zu können. Schlaff schmusen sie beim Slowfox, wie Enten auf halbtoten Wasserlinsentümpeln. Sie stecken fest in steifen Cocktailkleidern, ihre Gesichter sind verfugt mit teigigem, pudrigem 60s-Make Up. Hellrosa Lippen, starre, falsche Wimpern, klebrige Haarsprayfrisuren, Kunstfaserpullis. Wenn sie sich konzentriert ausziehen und die Miederware aufhaken, stiert die Kamera wie ein Frosch so lange drauf, bis Arme, Beine, Pos und Brüste zum Vorschein kommen und ihre Köpfe sich glibbrige, groß aufgenomene Küsse geben. Aber ich meine das nicht abfällig. Ich fand das alles sehr erregend. 9/10
Hier ein schöner Live-Mitschnitt. Und hier der Trailer mit den aussagekräftigen Bildern und den irreführenden Wörtern.
Unterwegs von Nürnberg heim nach Köln und Aachen. Autobahnrastplatz. Seepockenartige Ummauerungen widerstandskräftiger Hartlaubgewächse, und drei Riesen-Liegestühle aus ultrastarkem, mit festem Gummi beschichtetem Maschendraht. Dicht geparkte Riesentrucks, scheinbar menschenleer. Wir finden einen Weg, an dem entlang gestaffelt wir, einander höflich ignorierend, zufrieden Pippi machen. So etwas schweißt zusammen.
Lebhaft und voller Fragen berichtet Ciprian David über einen der Abende hier bei „Negativ“, schön schläfrig und poetisch Robert hier bei „Eskalierende Träume“ (12.-15.Juli 2013).
3 Kommentare zu "Filmtagebuch einer 13-Jährigen #9"
Sehr schön, Silvia. Ich danke! :)
Und ich freue mich :-) Super, dass du dich entschlossen hast, auch zum nächsten Kongress zu kommen. Schade, dass Leena nicht auch mitkommt! Aber vielleicht mal später, oder?
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